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April 1945

Kirche St. Leonhard 1950

Vor 75 Jahren gab es das auch schon mal. Kein Gottesdienst am Sonntag, den 15. April in Köditz, da die Spannung zu groß war. „Vormittag 10 Uhr besetzten amerikanische Soldaten nach kurzem Widerstand deutscher Soldaten am Nordrand von Köditz, das Dorf.“ Mehrere Scheunen wurden ein Raub der Flammen, zwei Menschen starben. (Pfarrer Konrad Senft, Pfarrchronik Köditz)

Zur Erinnerung an die Ereignisse des Kriegsendes in Köditz und Hof dokumentiere ich hier eine Predigt, die anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2020 entstand, und die im Gottesdienst am 26. Januar bereits in Köditz und in der Kreuzkirche zu hören war:

 

Ich lese einen Text der Menschen jüdischen und christlichen Glaubens gleichermaßen als heilige Schrift gegeben ist. Er steht im Buch des Predigers im 8. Kapitel.

Noch etwas habe ich beobachtet. Ich habe alles untersucht, was in der Welt geschieht, wenn einige wenige die Macht besitzen und die anderen darunter zu leiden haben. Ich habe gesehen, wie Verbrecher zum Gottesdienst in den Tempel kamen, während rechtschaffene Leute aus dem Heiligtum vertrieben wurden und niemand in der Stadt mehr an ihre guten Taten dachte. Auch das ist sinnlos! Dass die Strafe den Verbrecher nicht auf der Stelle ereilt, ermutigt viele dazu, Verbrechen zu begehen. Manche haben schon hundert Schandtaten verübt – und leben immer noch! Auch ich kenne das Sprichwort: „Wer Gott ernst nimmt, dem geht es gut. Aber wer Unrecht begeht, hat kein Glück. Sein Leben ist kurz und flüchtig, weil er Gott nicht ernst nimmt.“ Doch das ist Unsinn! In der Welt sieht es oft ganz anders aus: Da sind Menschen, die immer das Rechte tun, und es ergeht ihnen, wie es Verbrechern gehen sollte. Und es gibt Verbrecher, denen es so gut geht, als hätten sie immer das Rechte getan. Es bleibt dabei: Ich sehe darin keinen Sinn! Und ich musste einsehen: Ein Mensch kann das, was Gott tut und unter der Sonne geschehen lässt, niemals in seinem Zusammenhang erfassen. Er mag noch so angestrengt danach suchen. Den Zusammenhang der Dinge findet er nicht. Auch wenn ein Weiser behauptet, ihn zu kennen – gefunden hat er nichts. (Prediger 8,9-14.17, Gute Nachricht)

Ein KZ-Häftling aus Buchenwald notiert: „Insgesamt 3.000 Gefangene wurden evakuiert. Ich bemerkte, dass unsere Wachmänner ausschließlich SS-Truppen waren. Die SS-Leute hatten deutsche Schäferhunde, gemein blickende Bestien an Leinen dabei. Als wir etwa eine Viertel Meile gegangen waren, fielen Menschen aus den Reihen auf den Boden. Sie konnten nicht weiter gehen. Wir Gefangene liefen an den zusammengebrochenen Männern vorbei und bald hörten wir dumpfe Schüsse vom Ende des Zuges her. Den Gefangenen, die hinfielen, wurde von den SS-Männern, die am Ende des Zuges liefen, von hinten ins Genick geschossen. Von dieser Zeit an verlor ich alle Hoffnung, den Marsch zu überleben.

Ich wusste, dass ich früher oder später nicht mehr mit den Marschierenden würde mithalten können. Ich würde mit einer Kugel im Kopf enden. Es war nur eine Frage der Zeit. Bis dahin aber wollte ich alles tun, um am Leben bleiben zu können. Ich versuchte am Anfang des Zuges zu gehen und mich nicht zu weit zurückfallen zu lassen ans Ende, wo die Nachzügler mühselig umhergingen, die irgendwann leicht ins Stolpern gerieten und zu Boden fielen.

Während unseres Marsches gingen wir meistens auf Nebenstraßen und über Waldwege und umgingen soweit möglich größere und kleinere Städte. Wenn wir durch eine Stadt gehen mussten, scheuchten die Wachmänner die Zivilisten in der Umgebung der Marschroute weg, hießen sie wegzugehen und fernzubleiben.

Wir bekamen alle zwei bis drei Tage gekochte Kartoffeln. Meine Kraft schwand dahin. Wir waren nunmehr fast drei Wochen unterwegs, als wir Richtung Bayern kamen. Als der Tag endlich zu Ende ging, hielten wir für die Nacht am Rande eines kleinen Dorfes, von dem ich später herausfand, dass es Wölbattendorf heißt. Wir wurden zu einer großen Scheune geführt und hielten an der Landstraße an.“ (Robert Matzner)

Das Protokoll der Landpolizei, Posten Köditz, gibt an: 12. und 13. April 1945, ca. 1000 bis 1500 Mann, Evakuierungsmarsch – von Buchenwald kommend, Ziel unbekannt, 7 Mann in Köditz gestorben und auf dem Friedhof in einem Massengrab begraben, Nationalität sowie Namen der Verstorbenen unbekannt, 6 Mann in Wölbattendorf gestorben.

Dem damals 14-jährigen Augenzeugen Robert Matzner gelingt der Weg in die Freiheit. Er kann aus dem Häftlingszug entkommen, indem er sich in der Scheune versteckt und zurückbleibt, als der Zug am nächsten Tag weitergeht. Wenige Tage später ist er ein freier Mann. Die Amerikaner sind in Hof. Dorthin gelangt Matzner zwar noch einmal in Todesangst in Begleitung zweier Wehrmachtssoldaten, die ihn in der Scheune aufgespürt hatten. Die allgemeine Verunsicherung unter den Soldaten scheint allerdings groß. Sie warten auf Weisungen, aber es niemand mehr da, der eine solche gegeben hätte. Es bricht eine neue Zeit an: für den Gefangenen und für die Soldaten. Der Schrecken hat für Robert Matzner auf den zerbombten Gleisen des Hofer Bahnhofs ein Ende. Dort findet er sogar etwas zu essen und die Freiheit.

Zur selben Stunde flieht aus der Stadt der ehemalige NS-Oberbürgermeister Dr. Richard Wendler. Von 33 bis 39 leitete er mit den Leuten von der Partei die Geschicke der Stadt. Die Stadträte hatten fast keine Bedeutung mehr gehabt. Wendler war im April 45 nur kurz in Hof. Die Kriegsjahre verbrachte er im Osten Polens: Kielce, Krakau, Lublin, Tschenstochau, Radom. So hießen die Städte im eroberten Polen, wo der gelernte Jurist, auch Mitglied der SS, als Zivilbeamter die Amtsgeschäfte für das Dritte Reich führte. In Krakau steht er in Kontakt mit Oskar Schindler. In den von Wendler geleiteten Distrikten wirkten die Kreishauptleute bei der Selektion der Juden in Galizien mit – auf dem Land und in den Städten. Sie sorgten – wie man so sagte – für den „Abtransport“. Es kam zu Massakern an Ort und Stelle, wo dieser „Abtransport“ zu aufwendig erschien. Belzec, Sobibor und schließlich Majdanek waren die Ziele. Richard Wendler will später von all dem nichts gewusst haben. Den Verbrennungsgeruch der Krematorien des Lubliner Vorortes Majdanek habe man so stark wahrnehmen können, dass selbst Kinder wussten, was dort vor sich ging, sagt später ein Zeitzeuge. Anfang 1945 wurde aufgrund der vorrückenden roten Armee der Dienststab des Distrikts Lublin nach Hof verlegt. Er bezog mehrere Räume im Stadtbauamt. Nach dem 15. April 45 verliert sich die Spur des ehemaligen Hofer Bürgermeisters zunächst. Wendler taucht unter falschem Namen unter, wird in Baden-Württemberg später aufgegriffen und vor Gericht gestellt. Nach Revision bekommt er 1949 drei Jahre Arbeitslager als Strafe, kommt aber bereits 1950 frei. Sogleich betreibt er seine Wiederzulassung als Rechtsanwalt, die er 1955 neu erhält. Ermittlungsverfahren gegen ihn werden eingestellt. Im Evangelischen Hilfswerk setzte er sich als Jurist für deutsche gefangene Kriegsverbrecher in Polen ein. Wendler stirbt 1972 in Prien am Chiemsee.

Die Worte des Alten Testaments erscheinen wie ein Spiegel dieser Geschehnisse: Dass die Strafe den Verbrecher nicht auf der Stelle ereilt, ermutigt viele dazu, Verbrechen zu begehen. Manche haben schon hundert Schandtaten verübt – und leben immer noch! (…) In der Welt sieht es oft ganz anders aus: Da sind Menschen, die immer das Rechte tun, und es ergeht ihnen, wie es Verbrechern gehen sollte. Und es gibt Verbrecher, denen es so gut geht, als hätten sie immer das Rechte getan. Es bleibt dabei: Ich sehe darin keinen Sinn!

Das Tun des Guten führt nicht automatisch zu einem glücklichen Leben. Das Tun des Bösen wird nicht auf der Stelle geahndet. Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Wo ist Gottes Gerechtigkeit?

Der eine schafft es nur mit Mühe und letzter Kraft dem sicher geglaubten Tod zu entfliehen. Der andere, der an so vielen Stellen die Vernichtung von Juden, Roma, Polen und Anderen mit organisierte – auch wenn ihm nie eine direkte Mittäterschaft vor Gericht nachgewiesen werden konnte – verteidigt auch noch danach das Unrecht mit den Mitteln des Rechts. Gibt es ein Gericht, das dieses Unrecht jemals zu Recht bringt?

Es ist alles sinnlos, sagt der Prediger mit radikalen Worten. Es gibt kein Entrinnen auf Erden. Allzu oft hüllt Gott sich und seine liebende Seite in einen dicken Mantel. Wir spüren nur seine kalte Seite.

Und doch: Er ist ja doch da. Er ist ja doch für alles in der Welt ansprechbar. Ich denke in diesem Zusammenhang an die Architektur in orthodoxen Kirchen. Ein Mit-Besucher fragte mal: „Das ist ja alles schön hier mit den vielen farbenfrohen Bildern. Aber wo ist da eigentlich der Christus?“ – Die Antwort ist: „Ganz oben. Über den Köpfen. Dem ersten Blick des Betrachters enthoben. Aber trotzdem da. Im Zentrum der Kuppel, die alles überwölbt. Weit entfernt vom Standpunkt des Betrachters, aber nicht verborgen. Er ist da, auch wenn er nicht unmittelbar wahrgenommen wird.

In einem solchen Raum sind unsere Erfahrungen von der Sinnlosigkeit des irdischen Geschehens nicht verloren. Wir stehen vielmehr mit ihnen vor dem Angesicht Gottes. Auch wenn wir nicht vollends verstehen, die Zusammenhänge nicht ergründen können, so können wir doch unsere Erfahrungen der Ungerechtigkeit dieser Welt vor Gott bringen.

Einen kleinen Lichtstrahl der Hoffnung gibt es gleichwohl auch in unseren beiden Geschichten. Wäre dem 14-jährigen nicht die Kraft geschenkt gegeben worden, durchzuhalten, ja zu überleben, hätten wir seine Geschichte nicht. Dann könnten wir sein Leiden und das Leid und den Tod derer, die auch bei uns starben, nicht auf diese Weise erinnern. Dann behielten die Verbrecher auch noch in alle Ewigkeit recht. Und hätte uns niemand die Lebensgeschichte dieses ehemaligen Hofer Bürgermeisters recherchiert, dann wäre das Lavieren eines Mittäters bis heute nicht entlarvt worden.

Robert Matzner und Dr. Richard Wendler sind sich vermutlich nie begegnet, auch wenn sich beide in den Apriltagen 1945 hier bei uns in nächster Nähe aufgehalten haben. Ihre Geschichten stehen exemplarisch für die vielen Geschichten der Sinnlosigkeit in dieser Welt. Ich frage mich:

Was hätten Sie sich einander vor dem Angesicht Gottes zu sagen?

Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen!
Es ist kein menschliches Wort, wie diese,
seien sie wohlmeinend:“Erinnert Euch! Gedenkt!“ 
oder: „Einmal muss doch Schluss sein damit.“
Der Prediger der Bibel schärft ein:
Das letzte Wort ist kein menschliches Wort.
Es ist noch nicht gesprochen!

 

Versöhnungslitanei von Coventry (1959):
Alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten. Den Hass,
der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse,
Vater, vergib.
Das Streben der Menschen und Völker zu besitzen, was nicht ihr Eigen ist,
Vater, vergib.
Die Besitzgier, die die Arbeit der Menschen ausnutzt und die Erde verwüstet,
Vater, vergib.
Unseren Neid auf das Wohlergehen und Glück der Anderen,
Vater, vergib.
Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge,
Vater, vergib.
Die Gier, die Frauen, Männer und Kinder entwürdigt und an Leib und Seele missbraucht,
Vater, vergib.
Den Hochmut, der uns verleitet, auf uns selbst zu vertrauen und nicht auf Gott,
Vater, vergib.
Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebet einer dem anderen, wie Gott euch
vergeben hat in Jesus Christus.

Reconciliation

Reconciliation – Josefina de Vasconcellos, Coventry

Bildtafel: „Diese Plastik erinnert uns im Angesicht zerstörerischer Kräfte daran, dass menschliche Würde und Liebe über die Katastrophe triumphieren werden und Nationen in Respekt und Frieden zusammenbringen.“

 

Quellen:
Robert Matzner, Prisoner 19053, A true Story of a Fourteen Year Old Boy Who Spent Three Years in a Nazi Concentration Camp 1941-1945, 70-77.
Jörg Wurdack, Dr. Richard Wendler – Oberbürgermeister Hofs und Mittäter bei der „Endlösung“ im besetzten Polen, in Miscellanea curiensia, Band VII, Hof 2008, 99-133.
Arolsen Archives, International Center of Nazi Archives, www.arolsen-archives.org (Protokoll der Landpolizei Ober- und Mittelfranken, Posten Köditz, Bezirk Hof).
Pfarrchronik Köditz, 1918-2000. Dort auch die historische Ansicht der Kirche um 1950. 
Bild Plastik Coventry, Michael Grell.

Die Ereignisse des Kriegsendes in Köditz, die Schicksale von Heimatvertriebenen sowie die Zeit nach 1945 sind dokumentiert in einer Veröffentlichung des Vereins Historia Köditz e.V. unter dem Titel „…angekommen!? Erinnerungen von Flüchtlingen und Einheimischen aus Köditz nach 1945“, Juni 2016.Â