
Das Nachdenken über den Frieden im Kleinen wie im Großen steht im Mittelpunkt des Gottesdienstes am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres. Predigt von Pfarrer Michael Grell zum Motto der Friedensdekade „Reichweite Frieden“ und Psalm 85.
Predigt
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
Reichweite Frieden – so lautet das Motto der diesjährigen Friedensgebetswoche. Die nächsten 10 Tage bis zum Buß- und Bettag stehen unter diesem etwas sperrigen Motto „Reichweite Frieden“.
Wie weit reicht der gesellschaftliche Friede? Angesichts der aktuellen Pandemie-Entwicklungen trifft dieses Motto schon einmal ins Schwarze. Wir selbst können uns in unserem persönlichen Umfeld der Diskussionen kaum entziehen.
Wie weit reicht der gesellschaftliche Zusammenhalt, wenn es darum geht, die Kultur des fremden Nachbarn zu verstehen. Schulen, insbesondere Grundschulen und Kindertagesstätten stehen oft an vorderster Front, wenn es zu verschiedenen Ansichten über die Erziehung der Kinder kommt.
Wie weit verbreitet ist alltägliche sexualisierte Gewalt in Worten und Blicken immer noch in einer Gesellschaft, in der Männer sich aus der Affäre ziehen können, indem sie unter sich sagen: „Das war doch nur ein Witz!“ Ein schlechter Witz allerdings, den sich die Frau zu Herzen nahm.
Die Reichweite des Friedens hat Grenzen. Diese Grenzen spüren wir mal mehr, mal weniger schmerzlich. Wir haben ein Sensorium dafür. Wo wir es als Unrecht sehen, klagen wir es an. In biblischen Zeiten wurde diese Klage vor Gott gebracht. Das ist auch für uns heute noch eine gute Übung. Eine solche Klage ist im Psalm 85 überliefert. Es ist eine Klage der vielen über den Unfrieden, die Sünde und die Missetat. Hört die Worte des Psalmbeters:
Ein Psalm der Korachiter, vorzusingen:
Herr, du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande
und hast erlöst die Gefangenen Jakobs;
der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk
und alle seine Sünde bedeckt hast;
der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen
und dich abgewandt von der Glut deines Zorns;
hilf uns, Gott, unser Heiland,
und lass ab von deiner Ungnade über uns!
Willst du denn ewiglich über uns zürnen
und deinen Zorn walten lassen für und für?
Willst du uns denn nicht wieder erquicken,
dass dein Volk sich über dich freuen kann?
Herr, erweise uns deine Gnade
und gib uns dein Heil!
Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet,
dass er Frieden zusagte seinem Volk
und seinen Heiligen,
damit sie nicht in Torheit geraten.
Doch ist ja seine Hilfe nahe denen,
die ihn fürchten,
dass in unserm Lande Ehre wohne;
dass Güte und Treue einander begegnen
Gerechtigkeit und Friede sich küssen;
dass Treue auf der Erde wachse
und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;
dass uns auch der Herr Gutes tue,
und unser Land seine Frucht gebe;
dass Gerechtigkeit vor ihm hergehe
und seinen Schritten folge.
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Liebe Gemeinde,
ein Klagelied könnten wir auch leicht anstimmen. Die Veränderungen, die um uns herum vor sich gehen, gehen uns zu schnell. Wir sehen den gesellschaftlichen Frieden, auf den wir uns viele Jahrzehnte verlassen konnten, schwinden. Wir sind hilflos, weil wir das Ende der Krise immer noch nicht absehen könne, obwohl wir es doch schon so nahe glaubten.
Was ist da mit der Gnade Gottes? Muss es denn immer so weiter gehen, dass dumme Herrenwitze das Klima vergiften? Muss es denn so sein, dass wir religiöse Erziehung ausschließlich in getrennten Gruppen im Grundschulunterricht durchführen? Muss denn alles immer so weitergehen?
Der Beter des Psalmes bringt das Ungenügen am Leben seines Volkes vor Gott. Und er hält einen Moment lang inne. Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet? – Könnte ich doch Gottes Wort in die Situation gesprochen sofort vernehmen. Das wäre doch was. Indem er sich diese Frage stellt, kommt er ganz zu sich und besinnt sich darauf, dass er von Gott eine Antwort in seiner Situation erwartet. Manchmal tut es gut, so innezuhalten, die Klagen wirken zu lassen, aber nicht uns selbst überwältigen lassen. Manchmal tut es gut, eine Pause auszuhalten, einen Moment Stille zu halten – und zu hören.
Stille
Gerade im Trubel der Ereignisse ist das wichtig. Ja, der Beter erinnert sich in der Stille an Gottes Zusagen. An den Frieden, den Gott verspricht, damit die Menschen nicht in Torheit verfallen. An Treue und Gerechtigkeit, an all das Gute, das Gott tut, erinnert sich der Beter. Ja, so ist Gott. Wenn er seine Kraft entfaltet, dann wird wirklich Frieden auf Erden.
Aber ist das nicht eine himmlische Vorstellung, wo Friede und Gerechtigkeit sich küssen? Hat das mit der Realität vor unseren Augen etwas zu tun?
Manchmal blicken wir zu weit nach draußen und sehen nur das Unheil. Das Evangelium legt uns eine Spur ans Herz. Das Reich Gottes, das Friedenreich Jesu kommt nicht mit äußeren Zeichen. Es ist mitten unter uns zu finden. Martin Luther sagt, es beginnt inwendig in uns, wo wir Gott vertrauen. Es ist unsere ureigenste Angelegenheit selbst. Wir sollen nicht den Heilsversprechen und den Rettern nachlaufen, die hier und da auftreten und das Blaue vom Himmel erzählen. Wir sollen auf uns selbst hören und auf Gottes Wort in uns. Sein Reich beginnt mit uns. Sein Friedensreich ist in Reichweite. Es ist nicht hier oder da zu bauen, es ist viel näher als wir gedacht.
So gelesen bekommt das Motto der Friedensdekade einen ganz anderen Klang: „Reichweite Frieden“. Es kommt auf uns selbst an. Der Friede ist in unserer Reichweit. Wir selbst stehen vor Gott und unseren Mitmenschen in der Verantwortung. Mit uns beginnt Jesus sein Friedensreich. Es könnte ja sein, dass es uns gelingt unseren direkten fremden Nachbarn zu verstehen und ein Stück auf ihn zuzugehen. Es könnte ja sein, dass dumme Sprüche und Witze, wenn sie unterlassen werden, das Betriebsklima verbessern. Es könnte ja sein, dass ein Gespräch über die allgemeine Not in der Pandemie doch noch Türen öffnet, die längst verschlossen erscheinen.
Freilich auch unser Handeln unterliegt Grenzen, aber ohne ihr Zutun will Jesus seine Jünger – und also auch uns – nicht einfach entlassen. Es kommt auch auf uns an. Das Reich Gottes beginnt bei uns, inwendig ins uns.
Dort, wo wir scheitern, dürfen wir uns immer wieder neu auf Gott besinnen, wie in dem folgenden Text, der das tröstlich zum Ausdruck bringt:
Aufrufe Mahnungen Proteste Forderungen
ich höre so viel
so viel, was man machen sollte für den Frieden
was getan werden muss von der Politik
von uns, von mir
damit es gut wird oder erst einmal besser
könnte ich doch hören, was du redest, Gott.
Stille
in die Stille hinein
beim Atmen der frischen Herbstluft
beim ersten Bissen in das frische Brot nach getaner Arbeit
beim Blick in das Augenpaar mir gegenüber
beim Lesen eines Satzes, der es auf den Punkt bringt
durch das Kind versunken im Spiel
durch die Musik, die mich trägt über Untiefen hinweg
Frieden, der höher ist als alle Vernunft
Frieden, den die Welt nicht geben kann
Frieden, der du selbst bist
lass dich hören unter uns.
(Holger Treutmann)
Amen. Â