
„Siehe, es kommt die Zeit…“ – Gottesdienst zum Ersten Advent mit Predigt von Pfarrer Michael Grell.
Predigt
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
die Hoffnungen auf diese Adventszeit waren groß. Endlich sollte wieder ein bisschen mehr Normalität herrschen. Dieses Jahr sollte es nicht so sein wie im vergangenen. Weihnachtsmärkte sollten ihre Türen wieder öffnen dürfen. Weihnachtsfeiern in Betrieben und Vereinen waren vielerorts wieder geplant. Gottesdienste, Konzerte und Adventsfenster wieder ohne größere Beschränkungen stattfinden. All das war noch bis vor wenigen Wochen, ja Tagen eine zuversichtliche Hoffnung, die uns über manches hinweggetröstet hat.
Nun aber ist wieder alles anders. Die Situation in den Kliniken macht uns sprachlos und ratlos. Die Hoffnungen schwinden. Schon kommt die Angst neu um die Ecke geschlichen in Gestalt einer neuen Mutante. Hätten wir es nicht besser wissen können? Hätte es besserer Führung bedurft? Ist da überhaupt noch eine Leitung erkennbar?
Auf den König ist kein Verlass mehr. Er hat keine Zukunft. Sein Nachkomme ist auch nicht besser. Kann man den Hirten noch vertrauen? – Diese Frage beschäftigte die Menschen zur Zeit des Propheten Jeremias. Er spricht in eine Situation der Verzweiflung die folgenden Worte:
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr,
dass ich dem David einen gerechten Spross
erwecken will.
Der soll ein König sein, der wohl regieren
und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.
Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden
und Israel sicher wohnen.
Und dies wird sein Name sein,
mit dem man ihn nennen wird:
„Der Herr ist unsere Gerechtigkeit.“
Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der Herr,
dass man nicht mehr sagen wird:
So wahr der Herr lebt,
der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!,
sondern: So wahr der Herr lebt,
der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt
und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens
und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.
Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.
(Jer 23,5-8)Â
Liebe Gemeinde,
da kommt noch was. Es ist noch nicht zu Ende, was sich so aussichtslos anfühlt. Da kommt noch was. Der Prophet richtet den Blick nach vorn. Während die einen an den Nachkommen des Hauses David festhalten und einen König nach dem anderen proklamieren, der seiner Aufgabe nicht gerecht wird, sagt Jeremia: Gott wird einen neuen Spross, einen gerechten Spross erwecken dem David. Der soll König sein.
Jeremia richtet den Blick nach vorn. Da bleibt noch Vieles offen. Das ist das Wagnis. Wir wissen nicht viel über die Zukunft. Jeremia beschreibt sie in seiner Situation dennoch als eine große Zukunft. Er hätte Grund zu klagen genug. Aber er kündet eine Zukunft an, die nicht nur daran festhält, wie freudig das Ereignis der Befreiung der Israeliten aus Ägypten einst war. Er kündet seinem Volk, das aufgeteilt ist in ein Nord- und Südreich, das verstreut ist durch Deportation und Vertreibung, eine Zukunft an, in der alle in ihrem Lande sicher wohnen. Ein Land, in dem es gerecht zugeht, weil ein gerechter Spross König sein wird. Ein Land, in dem sich alle als Teil des großen Ganzen verstehen können.
Das ist eine große Erzählung. Wir brauchen sie auch heute. Weil die Angst in Gestalt einer neuen Virusvariante um die Ecke schleicht, wird uns neu bewusst, dass wir nicht auf einer sicheren Insel leben, sondern nur sicher leben können, wenn wir gerecht mit dem Rest der Welt zusammenleben. Das wissen wir nicht erst seit wir das Virus haben. Flucht und Migration haben es uns schon früher angezeigt. Der faire Handel hat es als Problem benannt und kleine Lösungen gefunden. Brot für die Welt, das wir heute wieder neu starten, ruft es uns mit dem mehrjährigen Motto in Erinnerung: Eine Welt. Ein Klima. Eine Zukunft.
Wir brauchen diese große Erzählung auch für unseren Zusammenhalt hier. Durch die Pandemie ist an vielen Stellen im zwischenmenschlichen Bereich die Vereinzelung gefördert worden. Manche Menschen leiden darunter mehr als andere. Wir alle sehnen uns nach unbefangenen Begegnungen, nach gemeinsamen Feiern, und danach mit Menschen zusammen zu kommen, die uns verstehen und denen wir ein offenes Ohr schenken können.
Darauf richtet sich unsere Hoffnung zuerst. Auf den gerechten Spross, von dem Jeremia kündet. Es ist der Christus, der neu in die Welt kommt und diese alte verwandelt. Er ist nicht nur ein Nachfolger des Alten. Er kommt von Gott selbst. Er macht alles neu, von Grund auf. Das ist die große Hoffnung im Advent. Sie ist auch in diesem Jahr aktuell, vielleicht wichtiger denn je.
Gott kommt in diese alte Welt und macht sie neu. Die Aussicht auf sein Kommen facht die Hoffnung neu an. Sie ist aber auch eine Zumutung für uns. Wir können uns nicht mehr einschließen auf einer sicheren Insel. Sie verändert auch unser Denken und Handeln.
Abdul Rahim aus Bangladesch ist unmittelbar betroffen vom Klimawandel. Er kann seiner bisherigen Arbeit nicht mehr nachgehen. Jetzt hat er vor Ort durch Projektmittel finanziert, gelernt, wie man schwimmende und hängende Gärten anlegt und kann so auf dem Land wieder Landwirtschaft betreiben. So muss er sich nicht in der Stadt Arbeit suchen.
Nicht nur bei uns sind Menschen mit dem Leben bedroht vor dem unsichtbaren Virus. In der einen großen Welt sind es noch viel mehr. Sich impfen zu lassen ist für unser Zusammenleben hier ein Akt christlicher Nächstenliebe. Es ist aber nur der Anfang für eine Welt, in der wir weiter zusammenwachsen müssen in Solidarität für die, die auch unserer Hilfe bedürfen.
Gott kommt auch in unsere Beziehungen und macht sie neu. Manchmal trauen wir uns nicht, aufeinander zuzugehen, wo es doch längst nötig gewesen wäre. Manchmal ist es wichtig, dass unsere festen Vorstellungen in Frage gestellt werden. In den gerechten Frieden sind auch Menschen, die jenseits dessen sind, was wir als „normal“ ansehen, mit eingeschlossen. Erst dann ist dieser Friede Wirklichkeit, wenn wir das auch bei uns ernstnehmen.
Gott kommt zu uns. Aber er braucht uns auch. Wir dürfen an seiner neuen Welt mitwirken. Sie ist eine Verheißung. Eine Verheißung auf ein besseres Leben für diese ganze Welt und für unser Leben hier.
Ja, Gottes Lebendigkeit lebt auch durch uns. Durch Projekte die wir anstoßen, durch Veränderung unseres Handelns, durch ein inklusives Wahrnehmen, das alle Menschen egal welcher Farbe, welchen Geschlechtes, welchen sozialen Ranges mit einschließt. Wir arbeiten daran, Gott aber auch. Wir können nicht alles selbst machen, aber es kommt auch auf uns an. Wir vertrauen darauf dass Gott dabei ist.
„Siehe, es kommt die Zeit…“ Lasst uns in diesem Advent auf Gottes Verheißung vertrauen und mithelfen beim Bau des Reiches Gottes.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen in Christus Jesus. Amen.